Susanne Weiß von MORUS 14

Susanne Weiß von MORUS 14

Susanne, bitte beschreibe uns den Kiez, in dem MORUS 14 arbeitet.

Im Rollbergviertel sind viele Menschen sozial benachteiligt, leben von Bürgergeld oder sind Geringverdiener, und etwa zwei Drittel der Bewohner haben einen Migrationshintergrund. Die Wohnungen hier gehören eigentlich fast alle Stadt und Land, bestimmt 95 Prozent. Das Viertel ist so aufgebaut, dass du hier eigentlich gar keine Gentrifizierung hast, im Gegensatz zu allen Kiezen drumherum. Es gibt hier eine richtige Schneise zu allen anderen Kiezen mit der Werbellinstraße, der Karl-Marx-Straße, der Hermannstraße und der Thomashöhe. Das ist wirklich auffallend. Auf der anderen Seite von der Werbellinstraße ist in den letzten Jahren sehr viel Neues entstanden. Viele von den Vereinen dort sagen auch, dass die Menschen hier im Rollbergviertel eigentlich genau ihre Zielgruppe wären – sie aber keinen Zugang zu ihr finden.

Wird dagegen politisch nichts gemacht?

Es gab immer mal wieder Versuche in der Vergangenheit, die Kieze mehr zu durchmischen. Aber es gibt hier eben einfach den politischen Auftrag, Sozialwohnungen zu halten. Natürlich hat die Stadt und Land schon Interesse dran, wenn es hier mehr Durchmischung gäbe. Weil ja auch gesagt wird, wenn es ein komplettes Viertel gibt, in dem ausschließlich, oder fast ausschließlich, Leute wohnen, die von Transferleistungen leben, hat man die sozialen Probleme geballt.

Aber Gentrifizierung ist ja auch nicht die Patentlösung.

Ganz genau. Durchmischung hier ist nicht die alleinige Lösung. Da müsste man parallel im Schulbereich ansetzen. Das ist etwas, was wir immer wieder beobachten: Nur, weil man irgendwie Nachbar:in ist, schickt man nicht zwangsläufig die Kinder auf die gleiche Schule.

Neben dem Mehringplatz gilt das Rollbergviertel als eines der strukturschwächsten innerhalb des Berliner Rings.

ich sage immer: im Sozialatlas von Berlin sind wir stabil dunkelrot. Andere sind dynamischer dunkelrot. Das klingt absurd, aber diese Abstufung gibt es tatsächlich. Das „stabil“ kommt eben daher, dass es kaum eine Fluktuation gibt. Und ich würde trotzdem sagen, dass sich manche Dinge im Viertel aufwärts bewegen. Das können wir auch an den Bildungsabschlüssen messen und daran, wie viele Jugendliche eine Ausbildung oder sogar ein Studium machen. Das hat sich schon verändert.

Auf eurer Seite stehen auch wirklich eindrückliche Zahlen: Dass gut zwei Drittel der Kinder unter 15 Jahren hier im Kiez von Transferleistungen vom Staat leben.

Ja, diese Zahlen sind sehr bezeichnend, wenn man sich vor Augen hält, was sie bedeuten. Zum Beispiel machen wir mit den Kindern und Jugendlichen manchmal Ausflüge. Viele Familien haben das noch nie gemacht haben, manche von ihnen waren noch nie außerhalb Neuköllns und geschweige denn Berlins. Und sie haben deshalb überhaupt keine Vorstellung, was es drum herum ansonsten gibt. Das hat mit Bildung und Perspektiven zu tun, die die Leute haben oder eben nicht. Und teilweise haben sie auch einfach kein Geld.

Müssten die Leute, die auf der anderen Seite der Straßen wohnen, herkommen und ins Gespräch gehen? Die ganzen schicken Cafés hier ihre Türen öffnen? Oder siehst du die Verantwortung bei der Stadtplanung?

Die Antwort ist komplexer als ein einfaches „Wer ist Schuld“? Es gab Versuche, Cafés zu eröffnen. Aber sie haben nicht funktioniert, weil die Leute das Geld nicht haben. Letztendlich – und das sage ich natürlich auch aus der Perspektive unseres Vereins – ist es natürlich so, dass wir die Situation haben, dass unser ganzes Bildungssystem nicht darauf ausgelegt ist, Leute aufzufangen, die mit schlechteren Startbedingungen anfangen. Deutschland ist tatsächlich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern als das absolute Schlusslicht beim Bildungsaufstieg. Deshalb liegt beim Staat – im Sinne von staatlichen Institutionen – und Gesellschaft natürlich eine Verantwortung.  Die Erfahrungen, die viele von unseren Jugendlichen und ihre Familien machen, sind, dass sie draußen gehalten werden aus ganz vielen Dingen. In der Schule gibt es niedrige Erwartungen an sie, wenig Überzeugung davon, dass etwas in ihnen steckt, sie sind von Rassismus betroffen. Das ist oft auch in den Behörden so.

Wir sehen uns hier als Brücke. So planen wir gerade mit einem anderen Verein Informationstreffen mit Müttern aus dem Viertel, um sie zum Thema Ausbildung zu informieren, damit sie ihre Kinder dazu motivieren und unterstützen können. Es gibt eigentlich viele Beratungsstellen, aber das nützt nichts, wenn wir unsere Jugendlichen dort einfach hinschicken.

Kommen sie dort nicht an?

Sie kommen nur an, wenn wir sie an die Hand nehmen. Aber natürlich nicht im Sinne von „die sind zu blöd, das zu finden“, sondern einfach, dass wir mitgehen und das begleiten und einfach damit signalisieren, dass das in Ordnung ist, diesen Schritt zu machen. Deshalb ist Beziehungsarbeit, die Vertrauen aufbaut und das leisten kann, notwendig. Insbesondere, wenn die Leute bereits so schlechte Erfahrungen mit Behörden oder in anderen Einrichtungen machen mussten.

Welche eurer Projekte tun hier etwas dagegen?

Lass mich mit unserem Projekt „Schule – fertig – los“ anfangen, wo es darum geht, dass wir Jugendliche dabei unterstützen, idealerweise den Schulabschluss zu schaffen, für den sie das Potenzial und das Vorwissen mitbringen. Bei „Schule – fertig – los“ kommen die Schüler:innen sowohl aus Sekundar- als auch Gemeinschaftsschulen. Wir fangen deshalb in der neunten und zehnten Klasse an und bieten mittlerweile auch für das Abitur eine individuelle Unterstützung an.

Die individuelle Unterstützung ist notwendig! Um das zu verdeutlichen: Wir haben zum Teil Jugendliche im Projekt, die Anfang der neunten Klasse kommen und Inhalte von Texten nicht wiedergeben können. Und Du denkst: Krass, wie kann es eigentlich sein, dass die Schüler:innen acht Jahre in der Schule waren und Texte zwar lesen, aber nicht richtig verstehen können.

Also müsste sich am Schulsystem grundlegend etwas ändern?

Dass bei uns Schüler:innen aus neunten, zehnten oder auch elften Klassen sitzen, bei denen es eigentlich ein zweiwöchiges Bootcamp zu Grundrechenarten bräuchte, ist ein absolutes Armutszeugnis für Schulen. Das würde ich ehrlich gesagt auch gar nicht so sehr den einzelnen Lehrer:innen anlasten. Letztendlich ist es auch hier ein systemisches Problem. Es gibt Schulen, die einfach nicht darauf vorbereitet sind, dass Schüler:innen kommen, die wirkliche Unterstützung beim Lernen brauchen.

Gibt es irgendwo bereits Verbesserungen?

Ich bin jetzt seit sechs Jahren bei MORUS. Davor habe ich Geflüchtetenunterkünfte in Berlin geleitet. Es war relativ offensichtlich für mich, dass es mit den Leuten, die seit 2015 gekommen sind, eine große soziale Bandbreite gab. Manche Menschen haben studiert, manche eine Ausbildung gemacht, auch wenn vielleicht nicht nach deutschen Standards. Bei den libanesischen Familien, die in den 80er und 90er Jahre während des Bürgerkriegs gekommen sind, gab es vielleicht soziale Unterschiede zu heute. Aber eigentlich hatten wir es bei ihnen mit Leuten zu tun, wo all das schiefgelaufen ist, was der Staat und die Gesellschaft inzwischen besser können: Wir fangen mittlerweile sofort an, Deutschkurse anzubieten für Leute, die eine Bleibeperspektive haben und nicht damit, die Leute einfach in irgendeine Ecke zu schieben und sagen: „Stellt mal alle paar Monate und Wochen einen Antrag, damit ihr hierbleiben könnt, ihr geht ja sowieso wieder zurück“. Dass davon Menschen betroffen waren, sind die Ergebnisse von jahrelangem Leugnen unserer Einwanderungsgesellschaft.

Die Zivilgesellschaft – also auch die Arbeit, worunter eure fällt – leistet hier einen großen Beitrag zur Verbesserung.

2015 ist das erste Mal eine wirkliche Struktur entstanden. Professionelles Freiwilligen-Management gab es vorher auch, aber seitdem ist es erstmals in die große Breite gegangen. Das konnten staatliche Strukturen gar nicht leisten, also sich auf einen Schlag um so eine große Anzahl an Menschen zu kümmern.

Was wir unter anderem daraus gelernt haben: Es braucht die Zivilgesellschaft, um Menschen beim Ankommen in der Gesellschaft zu helfen. Die Besonderheit hier im Viertel ist, dass es Leute sind, die schon länger in Deutschland leben, aber als Parallelgesellschaft abgestempelt werden. Es wird gesagt: “Sie wollen sich nicht integrieren“. Da denke ich immer: Nein. Hier ist ganz grundsätzlich was falsch gelaufen! Es ist ein deutsches Problem, das wir hier haben.

Du hast gesagt, wir müssen positive Bilder zeichnen. Hast du eins für mich? Eine Erfolgsgeschichte?

Im letzten Schuljahr hatten wir Abiturkurse, in denen wir 27 angemeldete Jugendliche hatten. Dafür wäre vor zehn Jahren schlichtweg kein Bedarf gewesen, weil kaum jemand Abi gemacht hat. Das ist also ein Riesenerfolg!

Und vielleicht noch ein anderes: Ein Schüler hat einen halbjährigen Austausch in Thailand gemacht, das ist für unseren Kiez sehr ungewöhnlich. Das war toll.

Wie laufen das Mentoring, die Schulkurse, für diese Schüler:innen konkret ab?

Wir müssen keine Werbung machen, wir haben sogar Wartelisten für die Kurse. Es gibt einen großen Bedarf. Die Familien möchten, dass ihre Kinder in der Schule gut mitkommen, können sich aber in der Regel keine private Nachhilfe leisten. Natürlich steht für die Familien und Kinder das Schulische im Vordergrund. Aber gleichzeitig bekommen sie hier bei uns eine:n Erwachsenen an ihre Seite, die ihnen nochmal ganz andere Sachen mitgeben. Die Idee ist, diese ganz harten Grenzen, die wir hier haben, zu überwinden. Es gibt viele Kinder, die noch nie nebenan auf dem Tempelhofer Feld waren.

Das Tempelhofer Feld ist wirklich nah. Auf welche Art kann eine Familie keine Kapazitäten haben, ihren Kindern das zu zeigen?

Viele Eltern haben Angst um ihre Kinder und bringen sie bis zur fünften Klasse bis zu uns vor die Tür, obwohl wir im gleichen Komplex sind. Es gibt ein breites Spektrum an Gründen, weshalb das so ist. Viele Eltern können das, was sie selbst nicht kennen, nicht einschätzen. Manche haben auch Angst, ihr Kind an die Gesellschaft zu verlieren. Das gibt es häufig bei Familien mit Einwanderungsgeschichte. Sie haben Angst, die Kinder könnten ihre Kultur und Wurzeln vergessen.

Spielt auch eine Sorge vor „Entfremdung“ eine Rolle? Weil die Kinder sprachlich ja sowieso schon mehr von der Umgebung verstehen und oft für die Eltern übersetzen?

In vielen Familien sprechen die Eltern auch selbst deutsch. Aber die, bei denen es nicht so ist, machen häufig die Erfahrung, dass die Kinder sprachlich – und kulturell – für sie übersetzen müssen. Alles, was zum Beispiel in der Schule passiert, bekommen sie auch durch ihre Kinder gefiltert. Deshalb ist es in unserer Arbeit wichtig, auch den direkten Kontakt zu den Eltern zu haben, um diesen Filter einerseits zu umgehen und andererseits, um die Kinder zu schützen. Im letzten Jahr hatten wir einen Jugendlichen bei uns, der Widerspruch gegen das Jobcenter einlegen wollte, weil seine Eltern die Angelegenheit nicht regeln konnte – er war noch nicht volljährig. Das war nicht seine Aufgabe. Er meinte, er könne es nicht weiter mit uns diskutieren – es sei jetzt einfach so. Das ist im Großen und Ganzen die Erfahrung, die viele dieser Kinder machen: Dass sie die Verwaltungsstelle der Familien sind. Das versuchen wir ihnen abzunehmen.

Wie kann man sich bei euch noch engagieren?

Die meisten engagieren sich als Mentor:innen, die Patenschaften für ein Kind annehmen und sich einmal die Woche – oder auch häufiger – treffen und es begleiten. Ansonsten haben wir viele Straßenfeste, bei denen man mit aushelfen kann oder Ausflüge, bei denen man uns begleiten und mitkommen kann. Wir haben auch Gruppenangebote, Sportangebote. Du kannst auch deine eigenen Ideen mitbringen, es geht ja darum, den Kindern, Jugendlichen und Familien zu zeigen, was man so alles machen kann und wo man Gemeinschaften bilden kann. Du kannst beispielsweise einen Basketballkurs machen und entwickelst dadurch eine persönliche Beziehung und kannst darüber dann wiederum auch andere Sachen thematisieren. Gerade die persönlichen Beziehungen sind der Dreh, weil ja Vertrauen da sein muss. Das schätze ich an den MORUS-Bildungsprojekten auch sehr. Dass wir die Leute abholen und möglich machen können, dass sie hier wirklich ankommen.

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