Kazım Erdoğan von Aufbruch Neukölln

Kazım Erdoğan von Aufbruch Neukölln

Kazim, weshalb sprechen wir heute mit dir? Was macht deine Arbeit aus?

Ich bin 1953 in einem kleinen Dorf in Mittelanatolien auf die Welt gekommen. Ich habe in der Türkei das Abitur absolviert und danach bin ich als Tourist nach Berlin eingereist. Und da habe ich beschlossen, hier zu studieren. Und so blieb ich her. Nach meinem Studium habe ich zehn Jahre als Hauptschullehrer gearbeitet, 15 Jahre beim Bezirksamt Schöneberg als Schulpsychologe und von 2003 bis 2018 beim Bezirksamt Neukölln. In der Erziehung und Familienberatungsstelle. Und neben meiner hauptamtlichen Arbeit mache ich seit 49 Jahren ununterbrochen ehrenamtliche Arbeit.

Dann hast du ja bald Jubiläum!

Ja, so sieht es aus. Seit 2003 bin ich Vorsitzender des Vereines Aufbruch Neukölln. Ein Verein, der sich mittlerweile für alle Bürger von Berlin einsetzt. Zuerst war Neukölln der Schwerpunkt, jetzt sind wir in mehr Bezirken. Wir sind mit zwei großen Projekten berühmt geworden: 2019 haben wir die erste deutschlandweite Woche der Sprache und des Lesens organisiert. Ziel ist, dass die Menschen miteinander kommunizieren, dass wir Sprachlosigkeit und Kommunikationslosigkeit bekämpfen. Aber so richtig weltberühmt wurde ich mit dem Projekt türkischer Väter und der Männergruppe, der wir 2007 gegründet haben – die ist bis zum heutigen Tage aktiv.

Das ist großartig. Hat die Gruppe sich verändert?

Wir haben neben der türkischen Vätergruppe auch Internationale Vätergruppe initiiert. Im Moment haben wir vier Gruppen für türkische, zwei Gruppen für arabisch sprechende Männer und Väter und eine Gruppe, wo die Väter aus unterschiedlichen Ländern kommen. Aus der Türkei, Kurdistan, arabische Länder, Deutschland. Und da kommunizieren wir in deutscher Sprache. Und wir beabsichtigen, dass wir möglichst noch mehr Gruppen für Väter und Männer initiieren, um sie für mehr Bildung, mehr Erziehung, mehr Kommunikation zu gewinnen. Mit unserem Verein versuchen wir auch in die Gemeinschaftsunterkünfte zu gehen, um mit den dortigen Bewohnerinnen und Bewohnern ins Gespräch kommen, um Bedarfe zu eruieren und je nach den Bedarfen zu handeln.

Warum ist es wichtig, sich auf Sprache zu konzentrieren? Warum ist Sprache einer eurer Schwerpunkte geworden?

Sprachlosigkeit und Kommunikationslosigkeit haben in unserer Gesellschaft massiv zugenommen. So sehr, dass ich behaupte, dass 80 Prozent der bestehenden Herausforderungen Ergebnisse der Kommunikationslosigkeit und Sprachlosigkeit sind. Deshalb setzen wir dort an.

Was ist der Unterschied zwischen Sprachlosigkeit und Kommunikationslosigkeit?

Sprachlosigkeit ist, dass wir immer weniger unsere Sprache einsetzen und dass wir wenig die Schönheit der Sprachen ausstellen und dass wir uns weniger mit Literatur beschäftigen, dass wir immer weniger lesen. Ich sehe in den fahrenden Zügen, dass 90 Prozent der Leute mit ihren Handys entweder Musik hören oder Spiele spielen, anstatt miteinander zu sprechen und die Sprache als Kommunikationsmittel einsetzen. Die Sprache als Kommunikationsmittel ist für mich das wertvollste Instrument. Durch die Entwicklung anderer Möglichkeiten, Instrumente wie Handys, iPads, Fernsehen, kommunizieren Menschen nicht mehr miteinander. Es ist kein Zufall, wenn ich einen Hausbesuch mache bei einer Familie mit fünf Mitgliedern, dort hineingehe und ich werde kaum bemerkt. Und alle fünf spielen mit ihren Handys und reden nicht.

Wir müssen uns mehr für einander interessieren. Und wir müssen an einem Wirgefühl basteln, denn das Wirgefühl ist nicht gestärkt genug in unserer Hauptstadt. Das kann man verstärken, indem man miteinander mehr kommuniziert. Deshalb sind Sprache und Kommunikation so wichtig, das sind die beiden Hauptwerkzeuge, die wir für eine gesunde Kommunikation benötigen.

Also es ist ganz gezielt auch analoge Kommunikation gemeint? Denn über Kanäle wie WhatsApp spricht man ja auch mit anderen Leuten.

Die beste Kommunikation ist die aufsuchende Kommunikation: Dass man sich gegenseitig besucht und miteinander ins Gespräch kommt. WhatsApp und andere soziale Medien können eine gute Möglichkeit sein. Das finde ich toll. Aber die wahre Kommunikation, direkte Kommunikation ist etwas anderes. Und deshalb haben wir Woche der Sprache und des Lesens mehrere Male organisiert. Und wenn ich den Menschen, die damals mitgemacht habe, beim Einkaufen und auf der Straße sehr und sie sagen: Wir haben uns auf einer Lesung während der Sprachwoche kennengelernt, Wie geht es Ihnen? Das ist was anderes, als wenn jemand mir unbekannterweise eine Sprachnachricht schickt.

Da stimmen dir wohl viele Leute zu. Ein zweiter Schwerpunkt eurer Arbeit ist die Arbeit in Männergruppen. Das finde ich sehr interessant.

Wie du weißt, gibt es ja Gott sei Dank in Deutschland genug Angebote für Frauen und Mädchen. Was Angebote für Väter und Männer anbelangt, sind wir aber sehr rückständig. Es gibt kaum Angebote für Väter und Männer. Wir reden sehr viel, gerade über Männer mit Zuwanderungsgeschichte. Wir schreiben sehr viel über sie, aber wir haben nie versucht, mit ihnen ins Gespräch so zu kommen. Und deshalb wollte ich mal testen, wie man Männer für Bildung und Erziehung und für Gemeinwesen begeistern kann. Denn wir stellen außerdem fest, dass die Gewalt in unserem Land, in unserer Gesellschaft massiv zugenommen hat. Auch Häusliche Gewalt hat zugenommen, und das wollen wir nicht hinnehmen. Wir wollen präventiv handeln, präventiv Maßnahmen ergreifen, dass man weniger Gewalt in unserem wunderschönen Land hat.

Das klingt sehr gut.

Und ein weiterer Grund ist, dass unsere Kinder in Kitas und Grundschulen zu 99 Prozent von weiblichen Fachkräften betreut und erschwert werden. Zur Bildung und Erziehung gehören aber auch Väter und Männer, die wir mit einbeziehen sollten. Natürlich geht es hier nicht darum, dass ich von der Fähigkeit und Qualifikation von Müttern und Frauen wenig halte. Nein, ich schätze ihre Leistung sehr hoch. Aber eine Erziehung und Bildung ohne Väter ist Erziehung und Bildung auf einem Bein. Dass das nicht gut geht, wissen wir. Und deshalb wollen wir die Männer für Kommunikation, für Bildung, für Erziehung sensibilisieren. Und der Schlüssel dafür ist, dass die Menschen zusammenkommen, um sich in einer Gruppe über das, was wichtig ist, sich zu unterhalten. Und deshalb habe ich diese Gruppe ins Leben gerufen. Und wir brauchen in jeder Gemeinde, in jeder Stadt, in jedem Bezirk solche Angebote. Und nie ist es zu spät. Und wir machen für die Veränderung, für die kleine Miniveränderung den ersten Schritt. So habe ich im Jahre 2006 die erste Vätergruppe mit für Männer und Väter mit türkischer Zuwanderungsgeschichte ins Leben gerufen.

Wahnsinn! Dann gibt es ja in 2 Jahren noch ein Jubiläum für dich mit 20 Jahren Bestehen der Gruppen! Warum das so wenig gemacht? Diejenigen, die Opfer eines Übergriffs geworden sind, trifft ja nie die Schuld trifft, sondern sie trifft diejenigen, die eine Tat verüben. Gleichzeitig wird sich aber häufig darauf konzentriert, wie wir Frauen und Mädchen stärken können. Das ist natürlich wichtig, aber eben nur eine Seite der Medaille. Wie wurde dein Ansatz damals dann angenommen, weil er ja so neuartig war?

Ich habe mit zwei Leuten begonnen. Es wurde von Woche zu Woche mehr. Die Zahl der Teilnehmer stieg. Wir haben mittlerweile in der türkischen Gruppe über 100 Leute. Jede Woche kommen mindestens 25, 30 davon zu den Sitzungen. Es hat sich herumgesprochen, es wird sehr angenommen. Und wenn man nicht über die Menschen redet, sondern mit den Menschen direkt – das hat ja auch wieder mit Kommunikation zu tun – dann kann das funktionieren. Aber in unserem schönen Land, gehen wir oft von einem defizitorientierten Denken und Handeln aus. Und das führt nicht unbedingt zum Erfolg. Und wenn man die Vorurteile nicht hätte und die Menschen so nehmen würde, wie sie sind, dann sind sie offener denn je. Sie öffnen sich ganz, ganz schnell. Das hat mit der Atmosphäre zu tun, das hat damit zu tun, wie man mit den Menschen umgeht. Im Übrigen sind die Menschen, die Gewalt ausüben, nicht immer nur Täter, sie sind auch Opfer.

Was meinst du damit?

Mit anderen Worten: Wir sind alle Opfer, Opfer der Lebensbedingungen, Opfer der tradierten Denk- und Vorgehensweisen. Und wenn man das thematisiert und den Menschen klarmacht, was sie mit Gewalt erreichen, dann sind sie offen für das Angebot. Mein Leitspruch ist immer: Gewalt kennt keine Ethnie, keine Religion, keine Sprache. Das ist eine globale Herausforderung, die von uns allen mit der Hilfe von uns allen gemeistert werden kann. Gewalt ist auch das Endprodukt der Kränkung, der Zweifel und der Enttäuschung. Wenn der Mensch verzweifelt ist, gekränkt ist, enttäuscht ist, setzt er Gewalt als vermeintliche „Lösung“ der Herausforderung ein. Davor versuchen wir mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Beinahe alle Menschen setzen das ein, was sie erlebt, gesehen und gehört haben. Haben sie Liebe, Versöhnung, Zuneigung, Respekt, Wertschätzung erfahren? Oder haben sie Gewalt, Ausgrenzung, Erniedrigung, Abwertung erfahren? Dann setzen Sie das ein. Und deshalb lohnt es sich, dass man mit den Menschen kommuniziert und das thematisiert. Ich habe einmal in meiner Gruppe 25 Leute gefragt: Wer hat in seiner Kindheit Gewalt erfahren? Immerhin 22 meldeten sich.

Wow.

Und danach habe ich die Frage erweitert, indem ich gefragt habe: Wer aber von euch hat selber Gewalt ausgeübt? Denn das ist ja meine These: Dass die Menschen letztendlich das weitergeben, was sie in ihrer Kindheit oder in ihrer Sozialisation mitgenommen haben. Es ist total spannend und der auch wichtig zu verstehen. Denn wenn man sich diese hohen Zahlen anguckt, dann ist es natürlich ohne Hilfe von außen noch schwieriger, das zu brechen.

Sehr eingängig. Kannst du dich an ein, zwei besonders schöne Erlebnisse aus diesen Gruppen erinnern, die dich noch immer beschäftigen?

Das Schönste war die Anekdote mit Dursun. Dursun ist jetzt 78, er ist jetzt in der Türkei. Ich habe ihn einmal gefragt: Wie lange bist du verheiratet? Er hat geantwortet, 46 Jahre. Ich habe ja gefragt: Hast du jemals für deine Frau einen Blumenstrauß gekauft? Er hat mich gefragt: Was ist das? Und dann habe ich ihn gefragt, ob er, wenn ich ihm eine Hausaufgabe erteile, er bereit ist, die Hausaufgabe anzufertigen. Er hat gesagt: Ja, ich schwöre bei Allah, ich werde die Hausaufgabe anfertigen. Dann habe ich zu ihm gesagt: Wenn du heute nach der Sitzung in die Adalbertstraße in Kreuzberg gehst, da ist Blumen Dilek. Du gehst zu Blumen Dilek und kaufst deiner Frau einen Blumenstrauß. Versprichst du mir das? Er hat gesagt: Ich schwöre. Nach dem Treffen ging er zu Blumen Dilek und kaufte einen großen Blumenstrauß für seine Frau. Er zog vor der Wohnungstür seine Schuhe aus und seine Frau kriegte das mit. Sie machte die Tür auf. Sie fragte ihn: Du, was hast du in der Hand? Das ist ein Blumenstrauß, den habe ich für dich gekauft, antwortete er. Sie konnte ihren Augen nicht trauen. Sie fragte: Sag mal die Wahrheit. Ist das die Idee von Herrn Erdogan? Und so kauft jetzt zu allen bestimmten Anlässen seiner netten Frau einen Blumenstrauß.

Ja, das ist wirklich eine schöne Geschichte. Schöne, einfache Gesten der Wertschätzung und Anerkennung. Glaubst du, dass ein ursprünglicher der Runden damals war, dass sie auf türkisch stattgefunden haben? Einfach der Augenhöhe wegen?

Aber natürlich, wenn man davon ausgeht, dass damals 70 Prozent der Besucher der deutschen Sprache nicht mächtig waren, hat die Muttersprache eine große Rolle gespielt. Und das hat auch für mehr Vertrauen gesorgt. Sie konnten auch scherzen und Sachen persönlicher ausdrücken, weil sie die Sprache konnten. Das kommt sehr gut an! Ich merke bei meinen Männern, wenn sie müde werden während der Treffen, dann hole ich einen schönen türkischen Witz hervor. Dann öffnen sich ihre Augen wieder. Deshalb spielt eine Sprache, die man sehr gut versteht, eine größere Rolle. Und weil das ja vielleicht auch ein Gefühl ist, halt das, dass sich jemand wirklich für sie interessiert.

Ich glaube zum Beispiel, dass viele Quartiersmanagementansätze eine gute Arbeit machen, aber wenn da keine Bezugsperson ist, dann ist es ja vielleicht auch noch mal eine höhere Hürde das aufzusuchen.

Das Wichtigste ist bei solcher Arbeit, dass man aufsuchende Arbeit macht. Dass man nicht wartet, bis die Leute kommen und klingeln, sondern dass man von sich aus auf die Menschen zugeht. Und das versuchen wir. Wir haben auch Flyer, wir verteilen auch Flyer, aber 95 Prozent unserer Arbeit ist aufsuchende Arbeit. Wir rufen die Menschen persönlich an! Wir sprechen die Menschen persönlich an. Und wenn man mit zehn Leuten direkt kommuniziert. Dann weiß ich: Sieben von denen kommen zu 100 Prozent. Aber wenn man 100 Flyer verteilt, dann kommt eine einzige Person. Deshalb ist die aufsuchende Arbeit das A und O, Wenn man Menschen – von welcher Kultur, Sprachbereich oder welchem Bereich auch immer – erreichen möchte.

Wenn du sagst, dass du seit knapp 50 Jahren ehrenamtlich engagiert bist, kannst du, so kannst du die Zeit so ein bisschen Revue passieren lassen. Was waren am Anfang Herausforderungen? Gibt es heute gleiche, ähnliche, andere Herausforderungen? Sind Sachen besser geworden?

Etwas ist in Deutschland leider gleichgeblieben und heute auch noch so: Wenn man eine neue Idee hat, wird man belächelt, teilweise ausgelacht und die Menschen halten für nicht möglich. So war das auch mit meiner ehrenamtlichen Arbeit oder ehrenamtlich im Einsatz. Dass man gesagt hat, man kann den Menschen nicht helfen, sie werden doch nicht kommen. So war das mit der Sprachwoche. Man hat gesagt, Neukölln und lesen, Neukölln und Sprache, das passt nicht zusammen. So war das auch mit der türkischen Vätergruppe: Die kommen nicht, wurde mir gesagt. Wir müssen ins Positive und das defizitorientierte Denken und Handeln verlassen. Jede Maßnahme sehe ich als ein kleines Brötchen, das man backt. Jeder von uns kann jeden Tag mehrere kleine Brötchen backen. Das ist tausendmal besser, als wenn man einander ständig Steine in den Weg legt. Jede kleine Veränderung beginnt mit einem ersten Schritt und wir sollten nicht warten, dass andere diese Schritte machen. Jeder kann bei sich anfangen mit einem kleinen Schritt. Das ist meine felsenfeste Überzeugung. Wenn ich noch mal 21-jährig anfangen würde, ehrenamtlich zu arbeiten, dann würde ich mich genau so verhalten, würde ich mich genau so einbringen. Denn ohne ehrenamtliche Arbeit funktioniert in unserer Gesellschaft vieles nicht.

Aber bist du da manchmal auch sauer oder wütend auf den Staat, dass es eben ehrenamtliche Arbeit überhaupt in diesem Ausmaß braucht und es ohne nicht geht?

Sauer und wütend bin ich manchmal, wenn man auch die Kleinigkeiten nicht bekommt. Aber so ist halt Politik. Anstatt dass ich mich mit Politik auseinandersetze und streite, investiere ich die Zeit in Menschen. Da erreiche ich noch mehr, attraktivere, effektivere Ergebnisse. Und das ist mein Schwerpunkt.

Das finde ich schön. Das ist auch ein schönes Schlusswort. Möchtest du mir noch einen kleinen Ausblick geben?

Ja, wichtig ist alles, was wir machen. Aber mein Traum ist es, bevor ich ins Jenseits befördert werde, dass es in allen Berliner Bezirken und Regionen Angebote für Väter und Männer gibt. Ds würde mich sehr freuen.

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